Haltung

Bedeutet, den eigenen Weg zu gehen, auch dann wenn er alles abverlangt





Was Haltung für mich bedeutet


In meinem Leben gab es Entscheidungen, die ich nicht umgehen konnte. Als ich den Täter erneut benannte, diesmal gegenüber einer öffentlichen Stelle, war mir bewusst, dass dieser Schritt Folgen haben würde. Ich wusste auch, dass diese Folgen hart werden könnten. Für mich und auch für meine Familie.


Trotzdem war es der einzig richtige Weg. Nicht, weil ich besonders mutig bin, sondern weil das Gegenteil nicht mehr möglich war. Ich konnte das, was ich erlebt hatte, nicht länger in einem Raum lassen, der von bewusstem Gewährenlassen und geistlicher Relativierung bestimmt wurde.


Rückblickend sehe ich, dass Haltung nicht aus Stärke entsteht. Haltung entsteht aus Verständnis und Klarheit. Sie entsteht in dem Moment, in dem man erkennt, dass nicht handeln ein Verrat an sich selbst ist. Und sie entsteht aus der Entscheidung, genau das nicht zuzulassen.

Ein Gedanke im Grenzbereich

Es gab Momente in meinem Leben, in denen ich innerlich so weit an einer Grenze stand, dass ich kaum noch wusste, worauf ich mich stützen kann. Ich lebte mit einer Wahrheit, die sich nicht wegdrängen ließ und mich an meine Grenzen geführt hat.


Ich bin aufgewachsen in einer christlichen Gemeinschaft, in der der moralische Anspruch hoch war und das Selbstbild noch höher. Vieles wirkte hell und beinahe makellos. Doch die Wirklichkeit, in der ich groß wurde, war komplexer. Schein und Sein standen direkt nebeneinander, wie zwei Seiten einer Medaille. Und wenn man das Sein einmal kennt, verliert der Schein seinen Glanz und seine Wirkung.


Mit der Zeit wurde für mich eine Frage zentral: die Frage nach den Beweggründen. Warum handeln Menschen so, wie sie handeln. Als junger Erwachsener ging ich von Überforderung oder Naivität aus. Später zeigte sich, dass weniger Unvermögen im Spiel war und weit mehr bewusste Strategie. Diese Erkenntnis hat meinen Blick grundlegend verändert. Sie erklärt auch, warum bestimmte Verletzungen so tief wirkten und die Last später so schwer wurde. Es wurde deutlich, dass der Umgang mit mir nicht Fürsorge im christlichen Sinn war, sondern Verrat. Und ebenso deutlich wurde, dass der Umgang mit der eigenen Gemeinde nicht Ausdruck christlicher Lehre war, sondern das Fehlverhalten ihrer Vorsteher. Es zeigt bis heute, wie sehr der Begriff christlicher Fürsorge pervertiert wird, wenn man zu Mitteln der Unredlichkeit greift, um im Namen eines Höheren ein bestimmtes Menschenbild zu schützen.


Vielleicht erklärt das auch, warum ein Mensch wie Dietrich Bonhoeffer so weit zu mir durchdringen konnte. Er war mir über viele Jahre ein stiller Begleiter. Er hat nicht vor der Wahrheit weggesehen und er kannte die dünne Schicht zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Und er hat gezeigt, dass man sich dieser Spannung nicht ergeben muss, sondern entscheiden kann, wer man darin sein will.


Warum ich über Bonhoeffer schreibe

In meinem Leben gab es vereinzelt Menschen, die immer wieder in meinem Bewusstsein waren. Einer davon war Dietrich Bonhoeffer. Es war weniger die theologische Neugier, sondern weil seine Überlegungen und seine Sicht der Dinge an entscheidenden Punkten meiner eigenen Geschichte mein Denken geprägt haben. Eines der ersten Lieder, die ich als junger Jugendlicher auf dem Klavier spielen konnte, war „Von guten Mächten“. Ich wusste damals kaum etwas über den Mann, der diese Zeilen schrieb. Aber ich verstand ihre Stimmung, eine fragile Hoffnung inmitten einer für Bonhoeffer bedrohlichen Welt.


Ich selbst habe mich mehrfach mit dem Tod auseinandergesetzt. Nicht nur theoretisch, sondern sehr real und abschließend. Auch mit der Frage, was ein Gott, an den ich zunächst einfältig glaubte, dazu sagen würde. In einem christlichen Umfeld gilt der Suizid als schwere Schuld. Doch ich hatte niemandem geschadet. Ich habe mich immer für andere eingesetzt, und ich war überzeugt, dass Kinder geschützt werden müssen. Meine damalige Überlegung war klar: Wenn es einen Gott gibt, wird er schon sehen, warum ich gehe. Dass ich nicht fliehen wollte, sondern verhindern. Diese innere Logik ist erschütternd einfach und sie steht Bonhoeffers Ethik näher, als mir damals bewusst war.


Was Menschen tun und was sie lassen

Bonhoeffer hat sich denselben Fragen gestellt. Er war ein Theologe, ein Philosoph und Musiker und Mitarbeiter der Abwehr, des militärischen Nachrichtendienstes. Er hätte in den USA bleiben können und dort sicher leben. Doch er ging zurück nach Deutschland, mitten hinein in ein Regime, das Millionen Menschen ermordete. Er wusste, dass diese Entscheidung sein Leben kosten konnte, und er traf sie trotzdem. Nicht aus Heldentum, sondern aus Verantwortung.


Ein bemerkenswerter Aspekt Bonhoeffers ist, dass er während seiner Tätigkeit im Abschirmdienst der Wehrmacht systematisch log. Er täuschte Loyalität vor, verschleierte Reisen, baute verdeckte Kontakte auf. Doch er tat dies nicht, um sich selbst zu schützen, sondern um andere zu schützen. Er wusste, dass moralische Reinheit in einer Diktatur kein Wert an sich ist. Manchmal ist die Wahrheit gegenüber einem verbrecherischen System selbst ein Verrat am Menschen. Für Bonhoeffer wurde die Lüge ein Gebot der Liebe, eben weil sie Leben rettet.


In meiner eigenen Aufarbeitung bin ich einer ganz anderen Form der Lüge begegnet. Keine Lüge aus Verantwortung, sondern eine Lüge aus Selbstschutz. Keine Grenzüberschreitung um anderer willen, sondern ein reflexhaftes Zudecken eigener Fehler. Während Bonhoeffer Schuld bewusst auf sich nahm, um Schaden zu verhindern, nahmen Verantwortliche in meinem Fall die Wahrheit bewusst in Kauf, um Schaden zu vermeiden, allerdings den eigenen. Dieser Unterschied ist grundlegend. Er trennt eine Ethik des Handelns von der bequemen Ausflucht der Heuchelei und er zeigt, wie deutlich Moral von jener Doppelmoral abweicht, die sich selbst schützt, während sie andere belastet.


Die Theorie der Dummheit

Bonhoeffer hat einen weiteren Gedanken geprägt, den ich heute klarer verstehe als je zuvor, die Theorie der Dummheit. Dummheit, so sagt er, sei kein intellektueller Mangel, sondern die freiwillige Ausschaltung der eigenen Urteilskraft im Dienst einer Autorität. Ein Mensch, der sehr wohl denken kann, entscheidet sich dafür, es nicht mehr zu tun, weil Denken Konsequenzen hätte.


Ich habe dieses Phänomen der bemerkenswerten Kommaverschiebung nach links des Intelligenzquotienten bei einigen Menschen erlebt. Menschen, die im Alltag erstaunlich gut informiert sind, wurden plötzlich unfähig, sich zu erinnern. Menschen, die sonst jeden Ablauf und jede Kleinigkeit kennen, konnten plötzlich nicht sagen, wann sie zum ersten Mal von der Tat erfuhren. Und Menschen, von denen ich ausgehe, dass sie meinem IQ weit überlegen sind, wurden zu Menschen, die das Verhalten und die offensichtlichen Widersprüche zwar verdeckt in Frage stellen, aber dennoch akzeptieren. An diesem Punkt endet das Interesse an der Wahrheit, und mit dem Ende des Interesses endet auch die Bereitschaft zu fragen. Und damit gibt es keine Widersprüche und keine Fehler und somit keine Verantwortung. Eine kollektive Amnesie, die immer dort beginnt, wo persönlicher Selbstschutz anfängt. Bonhoeffer hätte es vielleicht so formulieren können: Das ist nicht Dummheit. Es ist die Entscheidung gegen Verantwortung.


Solche Muster sind geschichtlich nicht neu. Robert Mulka zum Beispiel, Adjutant des Auschwitz Kommandanten, war zeitweise für den Transport des Tötungsgases verantwortlich. Vor Gericht erklärte er, er habe von den Tötungen nichts gewusst. Es geht hier nicht um eine Gleichsetzung der Systeme – das wäre unzulässig und absurd. Es geht um etwas anderes, um die Struktur des Verhaltens. Wenn Verantwortung droht, verschwindet Erinnerung. Wenn Wahrheit gefährlich wird, wird sie unkenntlich gemacht. Die Muster ähneln sich. Die Folgen auch.


Besonders deutlich wurde dies in der Zeit des Nationalsozialismus, als Menschen sahen, wie jüdische Nachbarn, Freunde und Bekannte aus ihren Häusern geholt und auf Lastwagen verladen wurden. Viele ahnten und manche wussten, was das bedeutete. Aber sie schwiegen aus Angst vor den persönlichen Folgen, aus Loyalität oder aus der Hoffnung, dass Nichtwissen schützen würde. Damals war, das muss man dazu sagen, ein Widersetzen lebensgefährlich. Dennoch ist dieses Schweigen ein Spiegel jener Dummheit, von der Bonhoeffer spricht. Es war kein Mangel an Wissen, sondern das bewusste Abgeben der eigenen Urteilskraft aus Selbstschutz.


Doch es gab auch andere. Menschen wie Oskar Schindler oder Maria Nickel (Rimkus), die persönliche Risiken in Kauf nahmen, um Leben zu retten. Oder Menschen wie Helmut Kleinicke, die jüdische Familien schützten und das System nutzten, um den Schein zu wahren und gleichzeitig Menschen zu helfen. Solche Menschen haben meine größte Hochachtung. Sie zeigen, dass selbst in totalitären Strukturen moralisches Handeln möglich ist, wenn man bereit ist, den Preis dafür zu tragen.

Bonhoeffers Theorie der Dummheit

Er hätte es auch so formulieren können:

Das ist nicht Dummheit. Es ist die Entscheidung gegen Verantwortung.

Meine eigene Geschichte

In diesem Licht wird das Verhalten einiger heute umso schwerer erträglich, gerade in einem Feld, in dem moralische Verantwortung so eindeutig sein müsste wie bei der Aufarbeitung von Kindesmissbrauch. Menschen, die moralische Integrität predigen, aber sobald es um ihren eigenen Schutz geht, bereit sind zu lügen und Verantwortung abzugeben. Nicht, weil sie es müssen, sondern weil sie es können. Der Kontrast zu jenen, die damals ihr Leben riskierten, um Menschlichkeit zu bewahren, könnte kaum deutlicher sein.


Was mich viel beschäftigt, ist der Gedanke an meinen Großvater und daran, wie er moralisch in das NS-System eingebettet war. Er war kein einfacher Soldat. Er war Offizier, ein Mann in Verantwortung, befehlend und leitend. Er diente an verschiedenen Fronten in Frankreich, in Russland und in Italien, eingebunden in die Logik eines Staates, der totale Loyalität verlangte. Was er wusste, was er ahnte, was er nicht wissen wollte, lässt sich heute nur vorsichtig oder gar nicht beurteilen. Aber klar ist. Ein Offizier trägt immer Verantwortung, auch wenn die historischen Bedingungen eng, hart und brutal waren.


Nach dem Krieg kam er zur Organisation Gehlen und später zum Bundesnachrichtendienst, also in Strukturen, die aus Teilen der alten Dienste hervorgingen. Es ist eine seltsame historische Linie und es bleibt eine offene Frage, wie es dazu kam, dass er ausgerechnet dort landete. Auf der einen Seite steht Bonhoeffer, der während des Krieges aus der Abwehr heraus Widerstand organisierte. Auf der anderen Seite steht mein Großvater, der Jahrzehnte später im zivilen Nachfolgedienst arbeitete. Zwei Biografien, institutionell entfernt miteinander verbunden, aber moralisch in völlig verschiedenen Räumen. Das ist diese Ambivalenz, die mich begleitet. Menschen handeln in den Grenzen ihrer Zeit, aber Haltung entscheidet immer darüber, wie weit sie diese Grenzen verschieben.


In gewisser Weise beginnt meine eigene Existenz in einem ähnlichen Spannungsfeld. Mein Vater musste aus einem Land fliehen, das ihn töten wollte. Nicht weil er schuldig war, sondern weil er sich für Menschen eingesetzt hatte, die Unrecht erlitten oder vom System benachteiligt waren. Ich existiere nur, weil er seine Haltung nicht aufgegeben hat. Vielleicht erklärt das, warum Verrat für mich nicht theoretisch ist. Warum ich Ungerechtigkeit nicht einfach hinnehmen kann. Und warum ich mich Menschen entgegengestellt habe, obwohl die Konsequenzen für mich und meine Familie erheblich waren. Und das nicht erst heute, sondern seit jeher, was sich durch mein ganzes Leben gezogen hat. Ich bin das Kind eines Menschen, der Verantwortung übernommen hat. Diese Geschichte hat mich geprägt.


Vielleicht haben Menschen wie Bonhoeffer deshalb einen so großen Eindruck in mir hinterlassen. Sie zeigen, dass Haltung möglich ist, auch dann, wenn alles dagegenspricht. Sie zeigen, dass man Systeme nicht nur ertragen, sondern ihnen widersprechen kann und muss. Und sie zeigen, dass Handeln immer eine Frage der Ethik ist, nicht der Umstände.

Ohne Menschen, die im Geist von hehren Werten handeln, kann kein Gott existieren.

Von guten Mächten

Wenn ich mit Menschen über Glauben, Verantwortung oder Religionen spreche, zitiere ich oft Bonhoeffers Vers aus seinem Lied "Von guten Mächten".


Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsere Dunkelheit gebracht
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen
wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.


Dann stelle ich eine Frage: Stellen wir uns vor, wir führen alle hohen Vertreter der Religionen und Glaubensgemeinschaften in ein Stadion. In die Mitte stellen wir eine Kerze, die nicht brennt. Danach bitten wir sie, all ihre guten Beziehungen zu ihren jeweiligen Chefs zu nutzen, um diese Kerze als Zeichen der Menschlichkeit entzünden zu lassen. Wie viele Jahre müssten wir wohl warten bis sie anfängt zu brennen. Wir würden vermutlich sterben, lange bevor etwas geschieht.


Frage ich jedoch ein kleines Kind aus der Runde, was es braucht, damit diese Kerze brennt, kommt eine einfache Antwort. Ein Streichholz oder ein Feuerzeug. Und dann ergänze ich. Und ein Mensch, der sie anzündet.


Genau darum geht es. Es braucht Menschen, die hinsehen, ihren Verstand einsetzen und handeln. Menschen, die Kerzen zum Leuchten bringen. Menschen, die nicht warten, bis eine höhere Instanz sie oder andere rettet. Menschen, die Verantwortung übernehmen, weil sie es können und weil niemand sonst es tut.


Ich werde oft gefragt, was ich persönlich glaube und ob sich mein Glaube verändert hat. Ja, das hat er. Als Kind und Jugendlicher wird man geprägt. Mit der Zeit verändern Erfahrungen die Sichtweise und irgendwann wird daraus eine Überzeugung. Ob sie sich erneut verändert, weiß ich nicht.


Aber meine persönliche Sicht auf Gott, die Welt und die Menschen ist heute diese. Gott oder sagen wir die guten Mächte können nur durch Menschen wirken. Ohne Menschen, die im Geist von hehren Werten handeln, kann kein Gott existieren.