Get a life! #02 - Der gefallene Vorhang
Der gefallene Vorhang

Ich habe diesen Abend genossen und ich muss noch immer grinsen. Über dem Tor hing ein Schild: „Swingerclub zur Scheinheiligkeit“ stand dort in großen Lettern. Ein Schelm, der das aufgehängt hat, aber es stimmt. Verwerflich ist nicht der Swingerclub. Verwerflich ist die Scheinheiligkeit. Mich widern Menschen an, die hohe Moral predigen und zugleich das Gegenteil leben. Diese, die mit großen Worten Verantwortung beschwören und denen im entscheidenden Moment die Puste ausgeht.
Ich denke an ein Zitat von Jesus, was mit der Bibel überliefert wurde: „Lass die Toten ihre Toten begraben“, soll er gesagt haben. Genau das sollen sie das tun. Sollen sie alles machen, was ihnen Spaß macht – hinter ihren großen, schweren Türen. Unweigerlich kommt mir auch das Bild von Erasmus von Rotterdam in den Sinn: das mit dem Fisch, dem Kopf und den Pheromonen.
Was sich hinter dem gefallenen Vorhang zeigt, sind keine Einzelfälle und keine Missverständnisse. Es sind Strukturen.
Derjenige, der mir als Kind Gewalt angetan hat, handelte nicht im Affekt. Er bewegte sich in einem Umfeld, das wegsah, relativierte und beschwichtigte – und ihm damit erst die Möglichkeit gab, diese Taten zu begehen. Menschen hatten Zweifel. Manche hatten ein ungutes Gefühl. Aber das Diktat der Gemeinschaft war stärker, und es verschluckte sie.
Und genau hier fiel der Vorhang. Weil nicht länger übersehen werden kann, worum es wirklich geht. Es geht nicht um Institutionen. Es geht nicht um Ruf oder Ansehen. Es geht nicht um Macht und Deutungshoheit und es geht um Kinder, die sich nicht wehren können. Um Kinder, die Schutz brauchen. Aber es geht auch um Erwachsene, die Verantwortung tragen – ob sie wollen oder nicht.
Genau deshalb reicht es nicht, mit Mahnungen zu arbeiten oder sich hinter wohlklingenden und einschläfernden Worten zu verstecken. Wer Kinder schützen will, muss bereit sein, hinzusehen. Klar, unmissverständlich und mit Konsequenz.
Deshalb bin ich überzeugt: Man muss die Scheinwerfer auf solche Gemeinschaften richten – auch wenn sie klein und unscheinbar sind. Und wenn sie ihre Türen nicht freiwillig öffnen, dann müssen diese Türen geöffnet werden.
Kinderschutz ist nicht verhandelbar.
Wir brauchen eindeutige Regeln und eine klare gesellschaftliche Haltung. Nicht derjenige verliert seinen Ruf, der Missbrauch benennt, sondern diejenigen, die Täter dulden, Taten relativieren oder Verantwortung vermeiden. Wer schützt, darf nicht zum Störenfried erklärt werden und schon gar nicht den Schaden davontragen. Wer wegschaut, darf sich nicht moralisch erhöhen können.
Die größte Verantwortung tragen jene, die führen. Menschen mit Einfluss, mit Stimme und mit Entscheidungsmacht. Alle anderen dackeln hinterher – oft aus Angst, aus Abhängigkeit oder aus dem Wunsch dazuzugehören. Auch das ist eine Form von Selbstschutz. Aber sie entbindet nicht von Verantwortung.
Wenn ich das Tor im Burghof sehe, dann denke ich: Vielleicht öffnet eines Tages jemand von innen die Tür. Vielleicht wird es dann nicht mehr „in“ sein, sich neben jene zu stellen, die über Jahre hinweg weggeschaut haben. Vielleicht suchen Menschen dann nicht mehr Nähe zu Macht, sondern Nähe zu Haltung. Zu Menschen, die nicht nur Moral predigen, sondern diese Moral leben.
Das ist es, was es braucht: Menschen mit Rückgrat, mit Klarheit und mit der Bereitschaft, unbequem zu sein. Menschen, die wissen, was sie tun – und warum.
Doch jeder schöne Abend geht zu Ende und jeder neue Tag bringt neue Herausforderungen. Wenn ich morgens in den Spiegel schaue, sehe ich keinen perfekten Menschen. Aber ich sehe jemanden, der sich nicht weggeduckt hat. Jemanden, der immer wieder aufgestanden ist und sich nicht aufgegeben hat.
Und meine Kinder? Sie werden ihren Weg gehen. Und sie werden mich nicht als einen Vater erinnern, der zerbrochen ist, sondern als jemanden, der versucht hat, Dinge zu verändern und zu verbessern. Der Verantwortung übernommen hat, wo andere sie abgegeben haben.
Wir waren es gewohnt, uns im Wasser fast tot zu strampeln. Jetzt haben wir Land unter den Füßen. Wir werden es erkunden. Und wir werden es für uns entdecken. Vielleicht klingt es verstörend, aber es ist befreiend: Ich beginne zu leben – ohne den Ballast des Alten, mit einem sauberen Fundament. Auch wenn vieles schwer war: Alles ist, wie es ist. Und genauso ist es gut. Ich trauere niemandem und nichts hinterher.
Was ich jetzt tun werde?
Ich tue das, was eigentlich jeder Mensch tun sollte: Ich kümmere mich bewusst um meine Gesundheit. Ich pflege meine Beziehungen. Und ich setze meine Kraft für jene ein, die sie brauchen. In meinem Wirkungskreis versuche ich, die Welt lebenswerter zu machen. Für mich, für meine Familie und für andere. Denn nicht hinter jedem Busch lauert ein Täter. Es gibt unzählige gute, herzerwärmende Menschen – in Vereinen, in Glaubensgemeinschaften, in Nachbarschaften –, die sich liebevoll um Kinder kümmern und ihnen Halt und Orientierung geben. Genau diese Menschen brauchen wir.
Wenn wir zusammenstehen, sichtbar sind und Werte vorleben, dann schaffen wir einen echten Schutzschild für unsere Kinder.
Und wenn ich mir eines wünsche, dann das: Dass ich mit Get a life! Klarheit und Verständnis schaffen kann. Und vielleicht auch Mitstreiter gewinne.
Es ist keine Empfehlung, Kinder zu schützen. Es ist unsere Pflicht.
Denn Kinderschutz ist nicht verhandelbar.





















