Ich bin. #08 - Sternstunde
Ich bin. #08 - Sternstunde

In diesem Artikel möchte ich mich besonders an die Menschen richten, die in schwierigen Situationen stecken und meine ganz persönliche Erfahrung mit euch teilen. Es ist schließlich so, dass wir alle in Beziehung mit anderen Menschen leben. Wir sind alle in ein soziales Umfeld eingebettet. In Familie, Partnerschaft, Freundschaften und Beruf. Und jeder Mensch hat darin seine eigenen Herausforderungen.
Nicht jeder muss mit einer Vergewaltigung oder einem Missbrauch umgehen. Aber viele kennen das Gefühl, in ihrem Umfeld zu zerbrechen. Wenn du spürst, dass etwas in deinem Leben nicht stimmt, wenn du ausgenutzt oder benutzt wirst, dann musst du etwas ändern. Und das kann niemand für dich tun, das musst du selbst tun. Für dich und nur für dich.
Wenn du darauf wartest, dass andere dich verstehen, dass sie etwas ändern oder Verantwortung übernehmen, dann wirst du bis zu deinem Tod warten, und wirst damit verloren haben. Wenn du benutzt oder ausgenutzt wirst, dann brich mit diesen Menschen. Und mach das konsequent. Radikal, wenn es sein muss. Denn das ist der erste Schritt, wieder zu dir selbst zu kommen.
Im Kontext von Missbrauch bedeutet das ganz konkret: Wenn Menschen in deinem Umfeld einen Täter gedeckt haben, wenn sie von dem Täter wissen und wussten, dann sind sie Verräter. Sie haben dich verraten und dein Leiden über ihren Ruf gestellt. Das ist verwerflich. Aber das ist die Wahrheit, nichts anderes.
Als ich über Bonhoeffer schrieb, habe ich meinen Opa erwähnt und komme hier nochmal auf ihn zurück. Von ihm stammt ein Erlebnis, das für mich eine große Bedeutung hat und das mein Denken über Entscheidungen und Verantwortung verändert hat.
Es war im Juni 1940 und mein Opa war bei diesem Ereignis ein Kompanieführer einer Einheit. Und sie hatten den Auftrag, das Fort Vaux an der Maginot-Linie in der Nähe von Verdun einzunehmen. Davon habe ich den originalen Gefechtsbericht und möchte von dieser Begebenheit erzählen. Im ersten Weltkrieg war es schon zu einem Symbol erheblichen Leids geworden, weil dort mehr als 300 Soldaten starben, als mehrere Flammenwerfer in die Tunnel gehalten wurden.
Es war früher Morgen, der Boden war nass vom Regen und die Luft war schwer. In der Ferne dröhnte Artillerie. Der Vormarsch war genau geplant, aber wie so oft im Krieg kam alles anders. Mitten im unübersichtlichen Gelände verloren sich die Truppenteile zwischen Gräben und Gestrüpp. Und so standen zwischen zerstörten Mauern plötzlich nur noch zwei Männer: mein Opa und ein weiterer Kamerad. Es gab keinen Funkkontakt und keine Unterstützung der restlichen Truppe mehr. Und dann gab es nur noch eine Richtung, vorwärts.
Er hätte umkehren können, er hätte warten können, aber er tat es nicht. Er ging weiter und das vorwärts, ohne Rücksicht. Ohne Rücksicht auf die Gefahr preschte er mit seinem Kameraden nach oben und stand dann auf dieser typischen Stahlkuppel, die man im Soldatenjargon Käseplatte nannte. Eigentlich war die Situation hoffnungslos, aber dann kam ihm eine Idee, die alles veränderte.
Sie hatten einen französischen Soldaten gefangen genommen und ihm befohlen, mit erhobenen Händen eine Botschaft an die Tür des Forts zu bringen: Wenn sie nicht kapitulieren, werden zwei Flammenwerfer zwanzig Minuten lang in die Tunnel gehalten. Die Furcht davor war so groß, dass sie kapitulierten und in Reih und Glied, mit erhobenen Händen, aus dem Fort kamen und aufgaben. Ohne Blutvergießen.
So wurde damals das Fort Vaux eingenommen. Von zwei Männern, die einfach nicht aufgehört hatten, nach vorne zu gehen und die sich überhaupt nicht über ihre hoffnungslose Situation Gedanken gemacht hatten und nur ihr Ziel und ihren Auftrag im Kopf hatten. Später hat mein Opa diesen Ort noch einmal besucht, viele Jahre danach. Er stand dort, wo er damals allein gestanden hatte, und schrieb eine Notiz über diese Begebenheit: Meine Sternstunde! Jeder Mensch soll im Leben einmal eine "Sternstunde" haben und es ist seine ureigene Angelegenheit, ob er sie nutzt: ich tat es damals!
Unter welchem Auftrag und unter welchen moralischen Bedingungen dies geschah, möchte ich hier bewusst nicht bewerten. Ich sehe hier nur die Situation, in der er alles riskierte.
Eine Sternstunde ist kein Moment des Ruhms. Es ist der Augenblick, in dem man aufhört, auf andere zu warten. Der Moment, in dem man begreift: Es wird dich niemand retten. Du bist allein und nur für dich verantwortlich. Nicht, weil Menschen schlecht sind, sondern weil es in entscheidenden Momenten nur dich gibt.
Und genau das ist die Botschaft, die ich dir heute mitgeben möchte. Wenn man kämpft, mit Angst, mit Schmerz, mit dem, was einem angetan wurde, dann ist das unser Kampf. Und man ist nicht schwach, wenn man fällt. Wenn man liegen bleibt, ist das keine Schwäche, sondern eine Folge der Last und das ist nur allzu verständlich.
Im Jahr 2023 hatte ich das Bedürfnis, diesen Ort selbst zu erleben und bin mit meiner Familie genau dorthin gefahren, um genau an diesem Ort zu stehen und das für mich zu spüren. Und dort wurde es mir bewusster denn je: Meine Chance liegt im Aufstehen. Immer einmal mehr aufzustehen als zu fallen.
Mein Opa hatte seine Sternstunde auf einem Schlachtfeld und ich bekam eine Ahnung von dem , was es bedeutet eine Sternstunde zu haben. Ich hatte später auch meine Sternstunde und diese war, als ich erkannte, dass ich allein bin und mir niemand helfen wird. Deine Sternstunde findet vielleicht in einem stillen Moment statt, wenn du dich entscheidest, nicht mehr zu akzeptieren. Wenn du beginnst, Verantwortung für dein eigenes Leben zu übernehmen.
Und wenn du sagst: Ich nehm mein Leben in die Hand. Ich packs jetzt.
Yes. Come on, Get a life!





















